Aristoteles, Goethe und Marx. Das war das Mindeste. Die Richtschnur. Der durchschnittliche Menschentypus werde sich bis zum Niveau dieser drei Geistesgrößen erheben, verkündete Leo Trotzki 1923 in seiner Schrift "Literatur und Revolution". Und weiter: Über dieser Gebirgskette würden neue Gipfel aufragen. Wer weiß, vielleicht dachte Trotzki bei diesem Zukunftsbild ja auch an sich selbst. Wer die Biografie des britischen Historikers Robert Service liest, wird jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit darüber belehrt, dass der Mann, der das - Zitat - "Russland der Ikonen und Kakerlaken" in eine neue und vermeintlich bessere Zeit führen wollte, zuallererst ein eitler, herrischer und arroganter Zeitgenosse gewesen sei, ein Revolutionär, der die große Pose und die Aktion liebte, nicht aber das Ringen um politische Programme und um den Ausgleich widerstrebender Flügel in der Partei. Gestützt auf dieses recht einfache Psychogramm einer angeblich sehr komplexen Persönlichkeit will Robert Service auch gleich erklären, weshalb Trotzki als Unterlegener aus dem erbitterten Machtkampf nach Lenins Tod im Jahr 1924 hervorging. Er sei ein Einzelkämpfer gewesen, wollte angeblich keinem Lager, keiner Fraktion angehören, war viel lieber mit sich selbst beschäftigt als mit der Bildung strategischer Allianzen.
Er war zutiefst ichbezogen. Es ist wahr, dass er dem Marxismus, der Oktoberrevolution und dem Weltkommunismus aufrichtig ergeben war. Er selbst konnte verbale Attacken abschütteln wie Staub. Doch begriff er einfach nicht, dass andere Bolschewiki nicht so waren wie er und dass sie, wenn er ihre Beschlüsse verspottete oder geißelte, annahmen, er verachte sie als Menschen - und es war politisch töricht von Trotzki, ihre Gefühle zu ignorieren.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Robert Service schreibt nicht ohne Bewunderung über den russischen Revolutionär, der - und das ist die tragische Pointe in diesem Leben - an seiner eigenen Revolution zugrunde ging. Er putzt Leo Trotzki nicht Seite um Seite seiner umfangreichen und auf einen breiten Materialfundus gestützten Biografie herunter, wie der Historiker und Publizist Gerd Koenen behauptet. Dennoch fällt Service, Historiker an der Universität Oxford, ein sehr eindeutiges Urteil. Trotzki war demnach - auch verglichen mit seinem Widersacher und Verfolger Stalin - kein Engel, kein Schaf in einem Wolfspelz. Zwar hat er sich immer wieder für demokratischere Strukturen in der Partei ausgesprochen und auch in der langen Kontroverse um die richtige Wirtschaftspolitik einen eher liberalen Kurs vertreten. Wer daraus aber ableitet, die Geschichte der Sowjetunion wäre anders verlaufen, hätte sich Trotzki gegenüber Stalin behauptet und nach Lenins Tod die Führung der Partei übernommen, der unterschlägt - so Service -, wie inhuman und brutal Trotzkis Pläne für einen Weltumsturz gewesen sind. Die blutige wie rücksichtslose Niederschlagung und Ahndung des Kronstädter Matrosenaufstandes durch den Kriegskommissar Trotzki wäre dafür eines von etlichen Beispielen.
Es ist wohl wahr, dass er freiere Formen der Diskussion innerhalb der Partei vorschlug. ( ... ) Seine Ideen verweisen jedoch nicht auf so etwas wie einen stabilen 'Kommunismus mit menschlichem Antlitz‘. Er blieb immer stolz auf die sowjetische Diktatur, und eifrig verteidigte er ihre ideologische Intoleranz und die praktizierte außergerichtliche Repression.
Gegen diesen - berechtigten - Versuch einer Entmystifizierung regt sich Widerstand. Nicht unbedingt das Schlechteste für ein Buch, das sich mit einer zentralen Figur und einer zentralen Frage des 20. Jahrhunderts beschäftigt. In diesem Fall aber verläuft die Diskussion reichlich krude und zielt auf eine "Verteidigung Leo Trotzkis" durch seine heutigen Fans. Der amerikanische Historiker und Trotzkist David North veröffentlichte ein Gegenbuch zur Biografie von Robert Service und warf diesem unter anderem Geschichtsfälschung in stalinistischer Manier vor. Eine absurde Debatte. Sie wurde zusätzlich verschärft, indem North eine Handvoll deutscher Historiker und Soziologen gewinnen konnte, mit einem Brief an Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz gegen die Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung zu protestieren. Die Unterzeichner - unter ihnen der Kommunismus-Forscher Hermann Weber - führten fachliche Mängel zur Begründung an. Ebenso behaupteten sie, die Biografie sei unterschwellig antisemitisch - ein Vorwurf, der sich auch bei übervorsichtiger Lektüre als nicht berechtigt erweist. Der Suhrkamp Verlag hat sich viel Zeit genommen, um die Einwände zu prüfen und ließ sachliche Fehler bei der Übersetzung korrigieren. Am Gesamtbild ändert das nichts.
Trotzki ( ... ) hätte genauso wenig wie Stalin eine Gesellschaft eines menschenfreundlichen Sozialismus geschaffen, auch wenn er behauptete, das zu tun, und selbst daran glaubte. Trotzki hat nicht die Frage geklärt, wie man von der Parteidiktatur zur allgemeinen Freiheit gelangt. Seine von Selbstgewissheit getragenen Angriffe auf Stalin in den 1920er und 1930er Jahren lenkten davon ab, dass seine eigene Alternativstrategie unglaubhaft war.
Und trotzdem ist die Trotzki-Biografie von Robert Service alles andere als befriedigend - auch wenn sie in ihrem Gesamturteil deutlich schärfer und prononcierter ist als andere Studien aus den letzten Jahren, etwa die Darstellung der Jahre Trotzkis im Mexikanischen Exil von Bertrand M. Partenaude. Das Unbehagen hängt zum einen mit den vielen bloßen Behauptungen im Text zusammen, mit Sätzen, die einfach so hingestellt und nicht weiter erklärt oder bewiesen werden. Trotzki war ein Opportunist, heißt es etwa mit Blick auf sein Agieren an der Parteispitze im Jahr 1917. Warum aber und inwiefern, wird nicht erklärt. Oder aber: Trotzki war ein Marxist. Wie und in welchem Umfang er sich mit dem Werk von Marx beschäftigte, welche Gedanken er übernahm und wie er die marxistische Theorie interpretierte - all das wird auf über 700 Seiten und in einer angeblich umfassenden Biografie nicht vertiefend erörtert. Und andere Leerstellen mehr. Der größte Einwand aber richtet sich gegen die weitgehende Ausblendung der zutiefst zerrütteten russischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Alltäglichkeit der Gewalt etwa in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg - der Historiker Jörg Baberowski spricht in seinem großen Buch über den Stalinismus von der Inkubationszeit des Terrors - wird stillschweigend ignoriert. Dass Trotzki in einer von latenter Gewalt erfüllten Zeit, in einem Gewaltraum, selbst gewaltvoll agierte - und zwar als einer von ganz vielen - darf in einer kritischen Biografie nicht übergangen werden.
Robert Service:
Trotzki. "Eine Biografie", Suhrkamp Verlag, 730 Seiten, 34,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42235-9
Er war zutiefst ichbezogen. Es ist wahr, dass er dem Marxismus, der Oktoberrevolution und dem Weltkommunismus aufrichtig ergeben war. Er selbst konnte verbale Attacken abschütteln wie Staub. Doch begriff er einfach nicht, dass andere Bolschewiki nicht so waren wie er und dass sie, wenn er ihre Beschlüsse verspottete oder geißelte, annahmen, er verachte sie als Menschen - und es war politisch töricht von Trotzki, ihre Gefühle zu ignorieren.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Robert Service schreibt nicht ohne Bewunderung über den russischen Revolutionär, der - und das ist die tragische Pointe in diesem Leben - an seiner eigenen Revolution zugrunde ging. Er putzt Leo Trotzki nicht Seite um Seite seiner umfangreichen und auf einen breiten Materialfundus gestützten Biografie herunter, wie der Historiker und Publizist Gerd Koenen behauptet. Dennoch fällt Service, Historiker an der Universität Oxford, ein sehr eindeutiges Urteil. Trotzki war demnach - auch verglichen mit seinem Widersacher und Verfolger Stalin - kein Engel, kein Schaf in einem Wolfspelz. Zwar hat er sich immer wieder für demokratischere Strukturen in der Partei ausgesprochen und auch in der langen Kontroverse um die richtige Wirtschaftspolitik einen eher liberalen Kurs vertreten. Wer daraus aber ableitet, die Geschichte der Sowjetunion wäre anders verlaufen, hätte sich Trotzki gegenüber Stalin behauptet und nach Lenins Tod die Führung der Partei übernommen, der unterschlägt - so Service -, wie inhuman und brutal Trotzkis Pläne für einen Weltumsturz gewesen sind. Die blutige wie rücksichtslose Niederschlagung und Ahndung des Kronstädter Matrosenaufstandes durch den Kriegskommissar Trotzki wäre dafür eines von etlichen Beispielen.
Es ist wohl wahr, dass er freiere Formen der Diskussion innerhalb der Partei vorschlug. ( ... ) Seine Ideen verweisen jedoch nicht auf so etwas wie einen stabilen 'Kommunismus mit menschlichem Antlitz‘. Er blieb immer stolz auf die sowjetische Diktatur, und eifrig verteidigte er ihre ideologische Intoleranz und die praktizierte außergerichtliche Repression.
Gegen diesen - berechtigten - Versuch einer Entmystifizierung regt sich Widerstand. Nicht unbedingt das Schlechteste für ein Buch, das sich mit einer zentralen Figur und einer zentralen Frage des 20. Jahrhunderts beschäftigt. In diesem Fall aber verläuft die Diskussion reichlich krude und zielt auf eine "Verteidigung Leo Trotzkis" durch seine heutigen Fans. Der amerikanische Historiker und Trotzkist David North veröffentlichte ein Gegenbuch zur Biografie von Robert Service und warf diesem unter anderem Geschichtsfälschung in stalinistischer Manier vor. Eine absurde Debatte. Sie wurde zusätzlich verschärft, indem North eine Handvoll deutscher Historiker und Soziologen gewinnen konnte, mit einem Brief an Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz gegen die Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung zu protestieren. Die Unterzeichner - unter ihnen der Kommunismus-Forscher Hermann Weber - führten fachliche Mängel zur Begründung an. Ebenso behaupteten sie, die Biografie sei unterschwellig antisemitisch - ein Vorwurf, der sich auch bei übervorsichtiger Lektüre als nicht berechtigt erweist. Der Suhrkamp Verlag hat sich viel Zeit genommen, um die Einwände zu prüfen und ließ sachliche Fehler bei der Übersetzung korrigieren. Am Gesamtbild ändert das nichts.
Trotzki ( ... ) hätte genauso wenig wie Stalin eine Gesellschaft eines menschenfreundlichen Sozialismus geschaffen, auch wenn er behauptete, das zu tun, und selbst daran glaubte. Trotzki hat nicht die Frage geklärt, wie man von der Parteidiktatur zur allgemeinen Freiheit gelangt. Seine von Selbstgewissheit getragenen Angriffe auf Stalin in den 1920er und 1930er Jahren lenkten davon ab, dass seine eigene Alternativstrategie unglaubhaft war.
Und trotzdem ist die Trotzki-Biografie von Robert Service alles andere als befriedigend - auch wenn sie in ihrem Gesamturteil deutlich schärfer und prononcierter ist als andere Studien aus den letzten Jahren, etwa die Darstellung der Jahre Trotzkis im Mexikanischen Exil von Bertrand M. Partenaude. Das Unbehagen hängt zum einen mit den vielen bloßen Behauptungen im Text zusammen, mit Sätzen, die einfach so hingestellt und nicht weiter erklärt oder bewiesen werden. Trotzki war ein Opportunist, heißt es etwa mit Blick auf sein Agieren an der Parteispitze im Jahr 1917. Warum aber und inwiefern, wird nicht erklärt. Oder aber: Trotzki war ein Marxist. Wie und in welchem Umfang er sich mit dem Werk von Marx beschäftigte, welche Gedanken er übernahm und wie er die marxistische Theorie interpretierte - all das wird auf über 700 Seiten und in einer angeblich umfassenden Biografie nicht vertiefend erörtert. Und andere Leerstellen mehr. Der größte Einwand aber richtet sich gegen die weitgehende Ausblendung der zutiefst zerrütteten russischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Alltäglichkeit der Gewalt etwa in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg - der Historiker Jörg Baberowski spricht in seinem großen Buch über den Stalinismus von der Inkubationszeit des Terrors - wird stillschweigend ignoriert. Dass Trotzki in einer von latenter Gewalt erfüllten Zeit, in einem Gewaltraum, selbst gewaltvoll agierte - und zwar als einer von ganz vielen - darf in einer kritischen Biografie nicht übergangen werden.
Robert Service:
Trotzki. "Eine Biografie", Suhrkamp Verlag, 730 Seiten, 34,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42235-9