Archiv


Zwischen Tarifflucht und Mindestlohn

Auf einer Klausurtagung Ende Januar gab DGB-Chef Michael Sommer die Parole aus vom "Projekt Trendwende": Die Mitgliederzahl aller DGB Gewerkschaften ist unter die magische Marke von sieben Millionen gefallen, es wird Zeit zum Gegensteuern, um den Bedeutungsverlust zu stoppen und die Finanzen in Ordnung zu bringen.

Von Ulrich Kurzer | 01.05.2005
    Zwar beruft sich der DGB immer noch darauf, mehr Mitglieder zu haben als alle politischen Parteien zusammen, im Alltag wenden sich aber immer mehr Arbeitnehmer von den DGB-Gewerkschaften ab: Entweder sind sie arbeitslos geworden und wollen zunächst einmal an den Mitgliedsbeiträgen sparen oder sie sind genervt von den Flügelkämpfen zwischen den eher linken Gewerkschaften IG Metall und ver.di und den pragmatischen Kollegen von der IG Chemie. Außerdem wird immer mehr Tarifarbeit direkt in den Betrieben geleistet, dem Ruf nach Flexibilisierung in der Arbeitswelt kommen die Gewerkschaften in ihren alten Strukturen nicht ausreichend nach. Eine Analyse zur Lage der deutschen Gewerkschaftsbewegung zum 1. Mai.

    Fast sechs Monate spielte der Mindestlohn in den wirtschaftspolitischen Debatten nur eine untergeordnete Rolle. Ende November letzten Jahres hatte die SPD die vom Parteivorsitzenden Franz Müntefering ins Spiel gebrachten Überlegungen zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns erst einmal an die Seite gelegt. Müntefering wollte die parlamentarische Initiative in dieser Angelegenheit nur mit Unterstützung der Gewerkschaften ergreifen. Doch die fanden damals zu keiner gemeinsamen Position.

    Uneinig war man sich allerdings auch in der SPD. Während Franz Müntefering noch mit den Gewerkschaften verhandelte, erklärte der Bundeskanzler, er halte wenig von Mindestlöhnen. Und auch der Wirtschaftsminister zeigte sich ablehnend. Schließlich versprechen sich beide Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung durch Niedriglöhne, die mit den Hartz IV-Gesetzen Realität geworden sind: Wenn tarifvertragliche Regelungen fehlen, müssen Arbeitslose nun jede Beschäftigung zum "ortsüblichen Lohn" annehmen. Und dieser darf sogar bis zu 30 Prozent unterschritten werden!

    Die Zahl der Arbeitsverhältnisse ohne tarifvertragliche Absicherung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, berichtet Gregor Asshoff. Er leitet die Hauptabteilung "Politik und Grundsatzfragen" bei der Industriegewerkschaft "Bauen Agrar Umwelt".

    "(Und) weil (...) dieser Anteil von Arbeitsverhältnissen, die keinen oder viel zu niedrigen tariflichen Regularien unterliegen, immer größer wird, immer größer geworden ist, in den vergangenen Jahren, haben die Gewerkschaften, durchaus auch unterstützt und getrieben von Wissenschaftlern, gesagt, da muss etwas passieren, wir müssen (...) da untere Grenzen einziehen."

    Nur über den Weg dorthin ist man sich innerhalb des DGB bis heute nicht richtig einig. Auf der einen Seite die Gewerkschaften Nahrung-Genuss-Gaststätten und ver.di. Sie fordern einen gesetzlichen Mindestlohn. Andere Gewerkschaften, wie die IG Bergbau Chemie Energie, die IG Metall und die IG Bauen Agrar Umwelt machen sich dagegen für tarifvertraglich vereinbarte Löhne stark, die dann für allgemeinverbindlich erklärt werden sollen und so ein Mindesteinkommen darstellen können.

    Allerdings ist die Anzahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Nach der aktuellen Statistik der Bundesregierung beläuft sich ihr Anteil an allen gültigen Tarifverträgen auf gerade noch 0,8 Prozent. Diese Entwicklung hat ihren Grund: Tarifverträge können in Deutschland nach dem Tarifvertragsgesetz nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Gesetz verlangt unter anderem Einvernehmen im Tarifausschuss, einem zu gleichen Teilen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften besetzten Gremium. Und dort haben die Vertreter der Arbeitgeber in den letzten Jahren immer weniger allgemeinverbindliche Tarifverträge zugelassen.

    Vor etwa drei Wochen plädierte der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber überraschend für einen gesetzlichen Mindestlohn, der von der Union bis dahin immer abgelehnt worden war. Aufgerüttelt hatten den Bayerischen Ministerpräsidenten offenbar Berichte aus deutschen Schlachthöfen, wo einheimische Beschäftigte von osteuropäischen Arbeitskräften verdrängt worden sind, die zu Dumpinglöhnen schuften.

    Die Bundesregierung hat unterdessen eine sogenannte "Task Force" gegen das Lohndumping aufgestellt und letzten Mittwoch beschlossen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu ändern. Es soll nun auf alle Branchen ausgeweitet werden. Bisher gilt es nämlich nur auf dem Bau. Gregor Asshoff von der IG BAU:
    "Es sieht vor, dass bestimmte Mindeststandards, genau ist das Mindestlohn und Urlaub, (...) zwingend gelten, wenn sie in einem Tarifvertrag niedergelegt sind (...) und dieser Tarifvertrag bundesweit Gültigkeit hat. (...) Es gilt für Arbeiten in Deutschland, aber für alle, auch für Firmen, die ihren Sitz außerhalb Deutschlands haben und nach Deutschland kommen, die ohne dieses Gesetz eigentlich sonst, weil sie nur vorübergehend hier in Deutschland sind, ihr ausländisches, portugiesisches, polnisches, französisches Arbeitsrecht hätten anwenden können."

    Eine Ausdehnung des Entsendegesetzes auf alle Branchen wäre fürs Erste ein richtiger Schritt, heißt es in den Gewerkschaften. Nach dem Entsendegesetz können nämlich Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden als nach dem Tarifvertragsgesetz. Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit kann per Rechtsverordnung für allgemeinverbindliche Tarifverträge sorgen, auch wenn die Arbeitgeber nicht einverstanden sind! Eine solche Entscheidung würde dann in- und ausländische Arbeitgeber verpflichten, ihre in Deutschland beschäftigen Arbeitskräfte mit Tariflöhnen zu bezahlen.

    Und trotzdem bekräftigen die Gewerkschaften Nahrung-Genuss-Gaststätten NGG und ver.di ihre darüber hinaus gehenden Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Das Entsendegesetz kann schließlich nur dort angewendet werden, wo tarifliche Regelungen bereits bestehen. Doch genau die fehlen heute vielerorts, vor allem in der Gastronomiebranche, deren Arbeitnehmer die NGG vertritt. Und auch in anderen Dienstleistungsbereichen wäre ein Mindestlohn eine Entlastung für die Arbeitnehmer, stellt Franziska Wiethold fest aus dem ver.di Bundesvorstand.

    "Zusätzlich fordern wir (auch) einen gesetzlichen Mindestlohn, weil wir im Dienstleistungsbereich große Bereiche haben, wo wir keine Flächentarifverträge haben, call-center zum Beispiel, ein sehr großer Bereich inzwischen, da haben wir es noch nicht geschafft, dort wollen wir zusätzlich einen gesetzlichen Mindestlohn. (...) Deutschland ist eines der wenigen Länder, wo es weder einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, noch allgemeinverbindliche Tarifverträge in irgendeinem großen Stil, (...) das heißt, das ist eine sehr besondere Situation in Deutschland. Die konnten wir uns so lange leisten, wie wir auch Arbeitgeberverbände hatten, die bereit waren, mit uns vernünftige Tarifverträge abzuschließen und die auch gesagt haben, diese Tarifverträge sind für uns die Norm, nach denen zahlen wir auch dann, wenn wir gar nicht tarifgebunden sind. Das war ein Konsensprinzip, was inzwischen ziemlich kaputt ist, und deswegen sehen wir uns auch genötigt, mit Hilfe des Gesetzgebers (...) gesetzliche Mindestlöhne oder allgemeinverbindliche Tarifverträge durchzusetzen, damit dieses unsägliche Sozial- und Lohndumping aufhört."

    Und auch in der IG Metall hat man inzwischen nichts gegen Mindestlöhne, nur über den Weg dort hin ist man immer noch anderer Meinung als in den Gewerkschaften ver.di und NGG, erklärt Hartmut Meine. Er leitet den IG-Metall-Bezirk Niedersachen und Sachsen-Anhalt:

    "Also erstmal ist das Anliegen, in dieser Gesellschaft einen Mindestlohn zu definieren, egal mal wie, ob gesetzlich oder tariflich, ein richtiges Anliegen, weil wir sehen mehr und mehr, dass Arbeitgeber darauf setzen, die Massenarbeitslosigkeit auszunutzen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu zu bringen, zu immer niedrigeren Löhnen Arbeit anzunehmen. Wir haben praktische Fälle, wo qualifizierte Facharbeiter für sechs Euro die Stunde arbeiten müssen, weil sie in ihrer Not bei hoher Arbeitslosigkeit keine andere Alternative sehen. Insofern braucht man glaube ich, für eine moderne und solidarische Gesellschaft wie in Deutschland eine Verständigung auf einen Mindestlohn, ein Mindesteinkommen."

    Doch in der IG Metall hält man nichts davon, die Höhe des Mindestlohns vom Gesetzgeber festlegen zu lassen.

    "Unsere Position dazu (...) ergibt sich aus dem Prinzip der Tarifautonomie. Tarifautonomie heißt, dass der Staat sich aus Lohnverhandlungen zurückhalten soll, sondern dies autonom von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt wird. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, Tarifautonomie: der Staat soll sich 'raushalten aus Lohnverhandlungen und auf der anderen Seite beim Staat einfordern, er möge einen Mindestlohn festsetzen. Deswegen sagen wir als IG Metall: Tarifliche Regelung von Mindestlöhnen für die jeweilige Branche und die dann für allgemeinverbindlich erklären für alle anderen Arbeitgeber, die nicht in den Arbeitgeberverbänden sind."

    Nun will auch ver.di gewiss nicht an der Tarifautonomie rütteln. In der Frage gesetzlicher Mindestlöhne spiegeln sich schlicht und einfach die unterschiedlichen Bedingungen gewerkschaftlichen Handels in den jeweiligen Branchen. Dort zum Beispiel die IG Metall, die für die meisten ihrer Mitglieder attraktive Tarifverträge abschließen kann. Der hohe Anteil von Großbetrieben ermöglicht eine effektive Arbeit vor Ort mit Betriebsräten und Vertrauensleuten. In Arbeitskämpfen verlassen sich die Funktionäre auf eine kampfbereite Belegschaft. Auf der anderen Seite die Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich, in dem sich ein tief greifender Strukturwandel vollzieht. Jürgen Kädtler vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen. Er arbeitet dort über industrielle Beziehungen, momentan gilt sein Augenmerk der Tarifpolitik im Handel.

    "Der Einzelhandel durchläuft im Moment eine gravierende Strukturkrise, die dazu führt, dass bei stagnierenden Umsätzen der Anteil der traditionellen Kaufhäuser, in denen die Gewerkschaften stark, oder relativ stark, organisiert gewesen sind und auch noch sind, zurückgeht, und der Anteil von Harddiscountern (...) zunimmt, bei den es für Gewerkschaften sehr schwierig ist, eine vergleichsweise Vertretungsstärke zu erreichen."

    Die Zahl der Kleinbetriebe und Filialen mit nur wenigen Beschäftigten hat dort zugenommen. Gewerkschaftsarbeit erfolgt unter schwierigen Bedingungen, Arbeitgeber behindern beispielsweise die Wahl von Betriebsräten mit vielen Tricks. Die Bezahlung ist schlecht, der Anteil so genannter 400-Euro-Jobs hoch. Und allgemeinverbindliche Tarifverträge gibt es längst nicht mehr, berichtet Franziska Wiethold:

    "Wir hatten im Einzelhandel bis Mitte/Ende der neunziger Jahre eine Situation, dass alle Tarifverträge, Lohn- und Gehalt- und Mantel, allgemeinverbindlich waren und deswegen auch für Arbeitgeber galten, die nicht tarifgebunden waren. Das war ein ganz großer Schutz vor Lohndumping und Schmutz- und Schundkonkurrenz. (...) Allgemeinverbindliche Tarifverträge haben wir nicht mehr, weil die Arbeitgeber es nicht mehr wollen."

    Nichts ist vor den Begehrlichkeiten der Arbeitgeber sicher. Löhne, Arbeitszeiten und Urlaub, "alles muss auf den Prüfstand" fordern sie, - und mit ihnen viele Politiker. Gezielt wird die Angst der Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz geschürt, damit diese bereit sind, auf gewerkschaftspolitische Errungenschaften zu verzichten.

    Ein probates Mittel: Es wird angedroht, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, bevorzugt nach Osteuropa, denn dort sind die Löhne deutlich niedriger als hierzulande. Die EU-Osterweiterung erleichtert diese Art der Tarifflucht. Nur wenn die Belegschaften bereit sind, fürs gleiche Geld länger zu arbeiten, wolle man im Lande bleiben und die Arbeitsplätze hier erhalten.


    Dem Siemens Konzern gelang es im letzten Sommer mit dieser Drohung, in zwei Telefonwerken die Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich zu verlängern. Im Gegenzug verzichtete der Konzern darauf, 2.000 Arbeitsplätze nach Ungarn zu verlagern. Über eine ähnliche betriebliche Vereinbarung verhandeln derzeit auch die Arbeitsnehmervertreter mit der Geschäftsführung von Siemens VDO in Würzburg: Der Autozulieferer will in Tschechien Massenprodukte fertigen lassen, die keine goßen technischen Anforderungen stellen und setzt die Arbeitnehmer im heimischen Werk damit unter Druck. In Würzburg soll vor allem die Forschung und Entwicklung verbleiben und anspruchsvollere Produktionslinien, betriebsbedingte K
    ündigungen will Siemens so vermeiden.

    Nach wochenlangen Verhandlungen, die von einer Besetzung des Werks in Bochum begleitet waren, mussten erst kürzlich die IG Metall und die Belegschaft von Opel viele Kröten schlucken. Bis zum Jahr 2007 sollen 6.000 Beschäftigte über Abfindungen ausscheiden, Tariferhöhungen werden gestrichen, das Weihnachtsgeld gekürzt und die Arbeitszeit flexibilisiert. Pro Woche können nun zwischen 30 und 40 Stunden gearbeitet werden. Opel verzichtet dafür bis zum Jahr 2010 auf betriebsbedingte Kündigungen.

    Bei Volkswagen wiederum befindet sich die IG Metall in einer starken Position. Der Organisationsgrad der Beschäftigten ist hoch, 95 Prozent sind Mitglied der Gewerkschaft. Für die Stammbelegschaft gilt die 28,8 Stunden-Woche an vier Tagen und die Bezahlung ist in einem Haustarifvertrag geregelt, dessen Niveau über dem der niedersächsischen Metallindustrie liegt.

    Im August letzten Jahres erklärte VW, man müsse die Personalkosten in den nächsten sechs Jahren um zwei Milliarden Euro senken. Nur so bleibe der Konzern konkurrenzfähig. Im November vereinbarten Volkswagen und IG Metall einen "Zukunftstarifvertrag" für die inländischen VW-Werke. Hartmut Meine, Verhandlungsführer der Gewerkschaft und Bezirksleiter in Niedersachsen:

    "Wir stellen eine Tendenz fest, dass wegen des Lohnkostengefälles Volkswagen immer stärker versucht, neue Produkte in Osteuropa und nicht mehr in Deutschland zu fertigen; vor diesem Hintergrund haben wir einen Vertrag geschlossen, der einerseits Zugeständnisse der IG Metall beinhaltet, da will ich nicht 'drumrumreden, auf der anderen Seite aber, ohne dass es zu Arbeitszeitverlängerungen kommt, für 103.000 Beschäftigte, bis Sylvester 2011, betriebsbedingte Kündigungen ausschließt."

    Diese Vereinbarung betrifft allein die Stammbelegschaft. Zugeständnisse musste die IG Metall bei neuen Beschäftigten machen. Sie müssen länger arbeiten und verdienen weniger.

    "Das wichtigste ist, dass die neu eingestellten Beschäftigten bei Volkswagen demnächst 35 Stunden arbeiten werden und damit auch ein niedrigeres Stundenentgelt haben als die Stammbelegschaft (...), für die Stammbelegschaft, diejenigen die schon immer bei Volkswagen sind, bleibt es bei der 28,8 Stunden-Woche."

    Es wird sich zeigen, ob diese unterschiedliche Behandlung von der Belegschaft dauerhaft akzeptiert wird. Ein Risiko für die IG Metall liegt darin allemal.

    "Das ist natürlich ein Thema, wenn zwei Menschen nebeneinander arbeiten zu unterschiedlichen Bedingungen. Da haben wir uns natürlich auch sehr schwer mit getan, es wird mit Zähneknirschen letztlich von allen Beteiligten akzeptiert. Diejenigen, die schon immer da sind, sind froh, dass sie ihre Bedingungen halten können, die neu eingestellten Beschäftigten sehen angesichts von Massenarbeitslosigkeit diese neuen Bedingungen, und, dass sie zu diesen Bedingungen dann einen neuen Job gefunden haben, ist letztlich für sie auch akzeptabel. Aber es ist schon ein Problem, da will ich nicht 'drumrumreden."

    Siemens, Opel und VW, drei Beispiele, die zeigen, dass die Gewerkschaften momentan in der Defensive sind. Sie haben Mühe, ihre Erfolge aus besseren Zeiten zu bewahren. Keine Rede ist mehr von einer "Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich", die in den Achtzigern auf der gewerkschaftspolitischen Agenda stand! Zudem verlieren die Gewerkschaften seit einigen Jahren Mitglieder. Nur noch gut sieben Millionen sind es mittlerweile im DGB. Arbeitslose sparen oft zuerst am Gewerkschaftsbeitrag. Der Sozialwissenschaftler Jürgen Kädtler:

    "Zur Zeit besteht, nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret, die Gefahr, dass die Gewerkschaften aufgrund der dramatisch sinkenden Mitgliederzahlen in eine Abwärtsspirale geraten, wo sie ihren Apparat und ihre Arbeit an das gesunkene Beitragseinkommen anpassen müssen, damit weniger Kapazitäten haben, sozusagen den erhöhten Anforderungen an die Ansprache der Öffentlichkeit Rechnung tragen zu können und damit das, was notwendig wäre, um die Kurve zu bekommen und den Mitgliedertrend drehen zu können, nicht schaffen, sondern im Gegensatz durch Anpassung an die gesunkenen Möglichkeiten ihn noch verstärken."

    Die Gewerkschaften sind also in der Defensive. Aber sind sie auch die Verweigerer, die sich flexiblen Regelungen vehement verschließen? So zumindest lauten regelmäßig die Vorwürfe aus dem Unternehmerlager an die Adresse der Gewerkschaften. Jürgen Kädtler:

    "Es lassen sich heute in allen Branchen zig Beispiele dafür zitieren, dass Gewerkschaften durchaus bereit und in der Lage sind, auf konkrete Anforderungen auf der betrieblichen Ebene, die es notwendig machen, von tariflichen Standards im einen oder anderen Punkt abzuweichen, durchaus einzugehen in der Lage sind, und zwar nicht nur jetzt in Fällen, wo (...) der unmittelbare Zusammenbruch des Unternehmens bevorsteht."

    Allerdings verkaufen die Gewerkschaften dies schlecht in der Öffentlichkeit

    "Der kritische Punkt ist nur, dass das in der Öffentlichkeit nicht wirklich als eine gewerkschaftliche Strategie dargestellt wird und auch wahrgenommen werden kann, sondern mehr oder weniger als punktuelles Zurückweichen, das (...) mit einigermaßen schlechtem Gewissen eingeräumt oder zugestanden wird."

    Über den jüngsten Tarifabschluss bei der Deutschen Bahn wurde ein dreiviertel Jahr verhandelt. Im Januar ließen die Eisenbahnergewerkschaften Transnet und GDBA ihre Mitglieder in "Basisvoten" über das Ergebnis abstimmen, das eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich um zwei Stunden vorsah. Dagegen liefen die Mitglieder Sturm und erreichten Nachverhandlungen von Gewerkschaften und Bahn. Heraus kamen Verbesserungen in einem neuen Tarifvertrag, der für 130.000 Beschäftigte bei der DB gilt. Michael Klein, Sprecher der Gewerkschaft Transnet:

    "Zu den Vorteilen des Tarifabschlusses gehört vor allen Dingen für die Beschäftigten, dass betriebsbedingte Kündigungen bei der Deutschen Bahn AG bis zum 31.12. 2010 ausgeschlossen sind. (...) Das ist das eine, eine Komponente. Eine weitere, es wird eine Mitarbeiterbeteiligung eingeführt, am Konzernergebnis, die beispielsweise beinhaltet für das vergangene Jahr (...) 100 Euro, später wird sie sich dann am Betriebsergebnis orientieren."

    Außerdem erhalten die Beschäftigten bis Juni 2007 monatlich 50 Euro, danach werden die Löhne um 1,9 Prozent erhöht. Doch das gibt's natürlich nicht umsonst: Ein Urlaubstag wird gestrichen und die Arbeitszeit um eine Stunde, auf nun 39 in der Woche, erhöht. Eine Stunde weniger, als in dem ursprünglichen Abschluss. Auch die Bahn ist zufrieden, sie erzielt mit dem Tarifvertrag eine Entlastung bei Löhnen und Gehältern in Höhe von 5,5 Prozent. - Natürlich haben die Gewerkschaften der Verlängerung der Arbeitszeit nicht gerne zugestimmt, sagt Transnet-Sprecher Michael Klein:

    "(Und) es wird immer Epochen geben, es wird Epochen geben, da, sag' ich mal ganz platt, geht's uns gut, es wird Epochen geben, da geht's uns schlechter. Und darauf müssen auch die Gewerkschaften dann ihre Arbeit auch letztendlich ausrichten. (...) Klar ist, wir haben in Deutschland ein Arbeitsmarktproblem, wir haben in Deutschland zu viele Arbeitslose, und klar ist auch, dass eigentlich die Arbeitszeitverkürzung dann der richtige Weg wäre. Klar ist aber auch, dass muss man letztendlich dann auch durchsetzten können."