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Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit

Iranische, afrikanische und europäische Gegenwartskünstler hat die ehemalige documenta-Chefin Catherine David in der Wiener Secession versammelt. Die Beteiligten fragen ganz einfach: Wie lebt man beispielsweise in Rio oder am Amazonas und wie machen wir uns ein Bild davon? Bilder vom Dschungel als Dschungel von Bildern.

Von Carsten Probst |
    Benommen von soviel hymnischer Feierlichkeit steht man in einem Galerie-Kabinett der Wiener Secession, eine Frauenstimme deklamiert die Beschreibungen eines tropischen Paradieses, während die Kamera in zittrigen Bildern über eine dschungelartige Landschaft streift. Hier, so scheint es, ist die Natur noch ganz bei sich selbst, der zivilisierte Mensch ein Fremdkörper, der staunend auf seine Ursprünge zurückgeworfen wird. Hier, an diesem Ort, im brasilianischen Urwald von Tijuca, wenige hundert Kilometer westlich von Rio de Janeiro, baute der Architekt Oscar Niemeyer Anfang der 50er-Jahre einen Glaspavillon nach dem Vorbild Mies van der Rohes als Wohnsitz für seine Familie. Schon bald jedoch zogen sie wieder zurück in die Stadt. Louidgi Beltrame, der französische Filmemacher, Jahrgang 1971, orchestriert seine Reise in die Wildnis zu diesem gut erhaltenen Denkmal der spätmodernen Architektur als mythologische Erzählung, die die Utopien der Moderne mit den Mitteln des Kinos dramatisiert. "Cinelandia" nennt Louidgi Beltrame seine Videoexpedition, die also eigentlich eine Reise ins Kinoland ist, in die schillernden Illusionen augenblickshafter Glückseligkeit, und unterlegt sie mit Texten Michelangelo Antonionis, des italienischen Filmpapstes, dessen politisches Leben zwischen Marx und Mussolini hin- und herschwankte.

    Beltrames Arbeit ist in ihrer Vielschichtigkeit kennzeichnend für den Ansatz von Catherine David in dieser Ausstellung. Jedes der gezeigten Werke lässt sich wie ein Vexierbild unter mehreren einander überlagernden Aspekten zugleich lesen: historisch, politisch, ästhetisch und als archäologischer Kommentar zur Gegenwart, zu den scheinbar uralten kulturellen Praktiken, das Fremde, das Andere zuzulassen oder zu bekämpfen.

    Sinnbildlich für diesen Ansatz steht auch die raumgreifende Installation im Hauptraum der Secession. Sie stammt von Altmeister Andrea Branzi, dem Grand Old Man des experimentellen Designs, dem Catherine David schon auf ihrer documenta von 1997 viel Raum gegeben hat. Branzi fügt in Wien ein paar zum Teil rollbare Kunstobjekte scheinbar in der Tradition der Arte Povera zusammen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um Material-Kollagen, die literarische, kunsthistorische, alltagskulturelle Fundstücke kombinieren. Die Gegenwart, das Banale und Alltägliche erscheint in diesen Kollagen als wundersame Wiederholung und Variation von Immer-Schon-Gewesenem, und vermutlich gilt das auch umgekehrt: Die Objekte erhabener kultureller Anschauung, antike Mosaiken, Fresken und andere Kostbarkeiten werden Teil eines immergleichen Musters kultureller Identitätsbehauptung und Idiosynkrasie.

    Nur ein paar Schritte weiter die optisch vielleicht reizvollste Momentaufnahme aus diesem stets schwankenden Geflecht der Beziehungen aus Alt und Neu, Aktuell und Vergangen, Politisch und Ästhetisch. Der junge amerikanische Installationskünstler Edgar Arceneaux hat inmitten seiner großen Rauminstallation aus Lichtobjekten, Malereien und Kollagen ein paar Bücher aufgestellt, die von Zuckerkristallen verkrustet sind. Sie sehen aus wie gefroren, und zugleich kommen Erinnerungen an ein berühmtes Bild der deutschen Romantik auf, jene Eiswüste aus Caspar David Friedrichs Gemälde "Das Eismeer", das ein Schiffswrack inmitten von Packeis zeigt und deshalb auch "Die verlorene 'Hoffnung'" genannt wurde. Das würde sogar passen, denn Arceneaux' Installation handelt vom gescheiterten Traum der amerikanischen Autostadt Detroit, die heute vor allem für ihre Industrieruinen bekannt. Und es passt auch zu Oscar Niemeyers Glaspavillon, jenem verlassenen, verrottenden Kristallbau im brasilianischen Dschungel, dem Louidgi Beltrame seinen hymnisch-ironischen Film gewidmet hat. Nicht viele Kuratoren der Gegenwart vermögen es, ihre Ausstellungen zu so präzisen Denk-Bildern zu formen wie Catherine David. Mögen sie auch keine Publikumsmagneten sein wie die documenta – sie weisen doch weit über den Rahmen des Alltäglichen und Gegenwärtigen des Kunstbetriebes hinaus.