Zwölf Mal Deutschland
Der Koran im Sauerland

Als Angela Merkel sagte, dass der Islam zu Deutschland gehöre, hat sich Cengiz Varli mächtig gefreut. Er ist Mitglied der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde und lebt in Meinerzhagen im Sauerland. Fast fünf Stunden haben wir dort mit ihm und seinem Freund Osman Akbal diskutiert. Und erfahren, warum die Ahmadis jede Form von Gewalt kategorisch ablehnen.

Von Jörg-Christian Schillmöller (Text) und Dirk Gebhardt (Fotos und Video) |
    Cengiz Varli von der Ahmadiyya-Gemeinde Lüdenscheid - zuhause vor dem Kamin
    Cengiz Varli von der Ahmadiyya-Gemeinde Lüdenscheid - zuhause vor dem Kamin (Dirk Gebhardt)
    Es ist Arbeit, bis das Interview zustande kommt. Cengiz Varli ist ein höflicher und eloquenter Mensch von 39 Jahren. Beim ersten Telefonat ist er skeptisch. Wer sind die beiden Wanderer, die ihn besuchen wollen? "Wie kann ich Ihnen trauen?", fragt er. Eine verständliche Reaktion: Die islamistischen Anschläge von Paris sind nicht sehr lange her, und die islamkritischen Pegida-Kundgebungen machen die Sache nicht leichter.
    Cengiz Varli nimmt unser Angebot an, beim Deutschlandfunk zurückzurufen und sich durchstellen zu lassen. Dann geht es schnell: Nach ein paar Minuten lädt er uns zu sich nach Hause zum Essen ein. Drei Tage später klingeln wir an einer Haustür in Meinerzhagen, und Cengiz und sein Freund Osman Akbal erklären uns ihren Islam.
    Grün ist die Farbe des Propheten
    Das Wohnzimmer ist blitzsauber. Deutsche Gemütlichkeit. Wir sitzen auf crèmefarbenen Ledersofas, trinken Tee, und im Hintergrund flackert ein Feuer im gemauerten Kamin. Vorhänge und Kissen sind blassgrün. Grün ist die Farbe des Islam und des Propheten Mohammed.
    Osman Akbal hat auch eine Ausbildung als muslimischer Notfallseelsorger
    Osman Akbal hat auch eine Ausbildung als muslimischer Notfallseelsorger (Dirk Gebhardt)
    Während wir uns unterhalten, bereiten Necile Varli und ihre Nichte Fatma das Essen vor. Der Vorhang vor der Glastür zur Küche ist heruntergelassen. Wir sehen die Frauen nur zur Begrüßung und zum Abschied - und einmal kurz zwischendurch, als Necile Varli uns nach Tee fragt. Sie trägt das Kopftuch und zeigt sich offen, freundlich und selbstbewusst. Am Gespräch nimmt sie trotzdem nicht teil, und sie gibt uns auch nicht die Hand.
    Das ist bei strenggläubigen Muslimen nichts Besonderes, schon gar nicht in islamischen Ländern. Aber viele Deutsche finden es befremdlich. "Das haben wir mehrfach erlebt", sagt Cengiz Varli, "zum Beispiel auf unseren Dialogveranstaltungen. Die Leute verstehen es nicht, wenn die Frauen den Männern nicht die Hand geben."
    Die Geschlechtertrennung ist den Ahmadis wichtig, auch wenn sie zunächst altmodisch wirkt. Cengiz Varli betont, dass aus Sicht der Ahmadis damit keine Benachteiligung der Frau einhergeht. Beim Thema Frauen geht es um Schutz, sagt er, und beim Handschlag geht es um Respekt. Das heißt: um Rücksichtnahme darauf, wie die Ahmadis ihren Glauben praktizieren. Er beruft sich auf das Grundgesetz, Artikel 1 und Artikel 4, Menschenwürde und Religionsfreiheit.
    Verfolgte in der islamischen Welt
    Ein paar Zahlen und Fakten. Cengiz Varli ist Präsident der Ahmadiyya-Gemeinde im benachbarten Lüdenscheid mit rund 50 Mitgliedern. Dort beten die Mitglieder einmal im Monat gemeinsam. Ansonsten beten sie zuhause, lesen jeden Tag im Koran und schauen sich immer freitags um 14 Uhr im eigenen Ahmadiyya-Fernsehsender die Predigt ihres Kalifen in London an. Er ist das spirituelle Oberhaupt, "demokratisch gewählt", sagt Osman Akbal.
    In Deutschland gibt es knapp 40.000 Ahmadis in mehr als 200 Gemeinden, und jede Gemeinde hat eine eigene Frauenorganisation. "Die Frauen arbeiten unabhängig und treffen ihre Entscheidungen selbst", betont Cengiz Varli. International sind es Millionen Anhänger, aber in der islamischen Welt haben die Ahmadis keinen leichten Stand. Sie werden in mehreren Staaten verfolgt. Das pakistanische Parlament hat sie vor 40 Jahren per Gesetz zu Ungläubigen erklärt.
    "Liebe für alle, Hass für keinen"
    Das liegt an ihrem Gründer Mirza Ghulam Ahmad, der die Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben rief. Die Ahmadis verehren ihn als Propheten, und das können viele andere Muslime nicht akzeptieren. Für die anderen, erklärt Cengiz Varli, sei Mohammed der letzte Prophet. Hinzu kommt: Unter Islamisten gilt die Ahmadiyya-Gemeinde als zu sanftmütig: Ihr Motto lautet "Liebe für alle, Hass für keinen". Gewalt lehnen sie kategorisch ab, und mit dem Freund-Feind-Schema der Radikalen lässt sich das kaum vereinbaren.
    Der Gründer der Ahmadiyya-Gemeinde (Mitte, oben) und die Kalifen seither
    Der Gründer der Ahmadiyya-Gemeinde (Mitte, oben) und die Kalifen seither (Dirk Gebhardt)
    In Deutschland fühlen sich die Ahmadis sicher, und sie bekennen sich zum Rechtsstaat. "Wir sind hier gut aufgehoben. Es gibt Gesetze, und daran muss sich jeder halten", sagt Osman Akbal. Mit Stolz erzählen er und Cengiz Varli, dass ihre Gemeinde in Deutschland den Status einer "Körperschaft des Öffentlichen Rechts" besitzt - und damit rechtlich der Katholischen und der Evangelischen Kirche gleichgestellt ist. In Hessen haben die Ahmadis neben dem Dachverband DITIB die Berechtigung, in den Grundschulen Religionsunterricht anzubieten. Sie sind offiziell anerkannt und eingebunden.
    Streit um pakistanische Flüchtlinge
    Doch diese Einbindung stößt nicht bei allen auf Zustimmung. Kritiker halten die Islam-Auslegung der Gemeinde für problematisch und verweisen etwa auf die Geschlechtertrennung und das Frauenbild. Im vergangenen Herbst erhoben "Der Spiegel" und "Report Mainz" zudem den Vorwurf, dass die deutsche Ahmadiyya-Gemeinde pakistanische Flüchtlinge finanziell ausbeute.
    Die Betroffenen müssten, so die Berichte, hohe Summen spenden, um eine Mitgliedsbescheinigung der Gemeinde zu bekommen - für das Asylverfahren. Der Bundesvorsitzende Abdullah Waigishauser wies die Vorwürfe empört zurück, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prüft den Sachverhalt. Auf ihrer Internetseite dokumentieren die Ahmadis die Presseberichte - inklusive der Kritik an der Gemeinde.
    Kein Zwang in der Religion
    In Meinerzhagen haben wir inzwischen gegessen - auch das ohne die beiden Frauen. Türkische Fleischbällchen, Bulgur-Salat, und Teigröllchen mit Spinat und Schafskäse. Danach sitzen wir wieder bei Tee und türkischem Kaffee im Wohnzimmer und reden.
    Cengiz Varli und Osman Akbal haben typisch deutsche Biografien. Osman ist hier geboren, hat Maler gelernt und arbeitet heute als Monteur für Wandschutz. Cengiz kam als Sechsjähriger ins Land, ging zur Grundschule, lernte schnell die Sprache und machte eine Ausbildung als "Zerspanungsmechaniker" - früher sagte man "Dreher". Später hatte er gemeinsam mit seiner Frau ein paar Jahre lang eine Boutique für Kleidung, dann versuchte er es zeitweise mit einer SB-Bäckerei und jetzt gerade sucht er einen neuen Job.
    Jeden Tag lesen die Varlis im Koran
    Jeden Tag lesen die Varlis im Koran (Dirk Gebhardt)
    "Vom Heiligen Krieg steht nichts im Koran"
    Was heißt eigentlich Islam für die Ahmadiyya-Gemeinde? Nach Cengiz Varlis Worten wollen die Ahmadis den "ursprünglichen, reinen und friedlichen Islam, wie der Prophet Mohammed ihn vor 1.400 Jahren vorgelebt hat, wiederherstellen." Wollen das die Salafisten nicht auch? "Wenn man den Koran kennt und die Praxis des Propheten, dann sieht man, dass die Salafisten dagegen handeln. Denn Islam ist eine Ableitung von dem Wort 'salam', und das bedeutet Frieden."
    Die Gemeinde stellt sich auch gegen Zwang in der Religion - und tritt ein für Laizismus, also die Trennung von Religion und Staat. Auch den Dschihad interpretieren die Ahmadis anders: "Vom Heiligen Krieg steht nichts im Koran", sagt Cengiz Varli. "Das Wort Dschihad bedeutet Anstrengung, Sich-Bemühen - und damit ist vor allem gemeint, den inneren Schweinehund zu überwinden. Wie kann man diesen schönen Begriff bloß extremistisch interpretieren?"
    Ihren Glauben tragen sie in die Öffentlichkeit. Es gibt durchaus ein missionarisches Element in ihrem Alltag. Sie wollen eine "innerislamische Aufklärung" ebenso erreichen wie den Austausch mit den Nicht-Muslimen. In Meinerzhagen haben die Ahmadis drei Islam-Ausstellungen unter Schirmherrschaft des Bürgermeisters organisiert, sie nehmen an Dialogabenden teil - und veranstalten die alljährliche Aufräumaktion am Neujahrstag. Dann fegt die Gemeinde in vielen deutschen Städten Böller und Raketen zusammen - auch in Meinerzhagen, wo sie sich vorher vom Baubetriebshof Handschuhe und Plastiktüten holen.
    "Uns blutet das Herz"
    Wir sprechen auch über die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo". Cengiz und Osman verurteilen die Anschläge von Paris. Kontrovers wird es, als wir über die Mohammed-Karikaturen sprechen. Stimmt es, dass im Koran gar nichts von einem Bilderverbot steht? "Ja, das stimmt", sagt Cengiz Varli. Aber ihm geht es sowieso weniger um das Ob als um das Wie der Darstellung. "Wir sehen Mohammed als Friedensprinzen an, und uns Muslimen bedeutet er mehr als die eigene Familie. Darum blutet uns das Herz, wenn er als Terrorist dargestellt wird."

    Auch Anfeindungen haben sie erlebt - nach dem 11. September 2001, als Cengiz in einer Firma für Spritzgussmaschinen arbeitete und ihm die Kollegen plötzlich ablehnend gegenübertraten. Oder als seine Tochter in der Schule sich in der Schule Sätze anhören musste wie: "Ich mag keine Türken und Muslime." Seine Frau wiederum wurde als "Terroristin" beschimpft, als sie einmal morgens einen Kleiderständer vor der Boutique aufstellte. Beim nächsten Mal warf sie dem älteren Herrn ein selbstbewusstes "Guten Morgen" entgegen.
    Typisch deutscher Garten: Cengiz Varli und die Hühner der Familie
    Typisch deutscher Garten: Cengiz Varli und die Hühner der Familie (Dirk Gebhardt)
    Am Ende bleibt ein Eindruck: Die Ahmadiyya-Gemeinde sucht den Austausch und den Vergleich von unterschiedlichen Haltungen. Cengiz Varli und Osman Akbal lassen andere Meinungen zu, auch wenn sie ihnen nicht behagen. Sie sind ein Teil Deutschlands, und sie wissen es zu schätzen, wenn die Politik das anerkennt. Am meisten gefreut hat Cengiz Varli sich über Bundeskanzlerin Merkel. Sie hatte in Anlehnung an den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Cengiz Varli lacht: "Da habe ich gedacht: Jetzt ist das wirklich meine Kanzlerin."
    Cengiz Varli über Respekt und die Kanzlerin