Fast hätten wir ihn nicht gefunden. Gut ausgeschildert ist etwas Anderes. Das Dörfchen Zentendorf protzt nicht gerade mit dem Label, den östlichsten Punkt des Landes sein Eigen zu nennen. Wir sind auf den letzten Kilometern unser Wanderung durch Deutschland, und wir schummeln. Wir sind mit dem Leihfahrrad unterwegs und machen noch einen Schlenker über Polen. Wir kommen hintenrum ans Ziel.
Die hölzerne Schwimmbrücke mit dem roten Geländer und den Fischgräten-Skulpturen knackt und schaukelt, als wir hinüberfahren. Wir sind aufgebrochen von der Kulturinsel Einsiedel, etwas nördlich von Zentendorf. Wir werden ein Rechteck abfahren. Von Deutschland Richtung Osten nach Polen, in Polen ein Stück Richtung Süden, dann Richtung Westen zurück nach Deutschland und Richtung Norden zu unserem Ziel, dem östlichsten Punkt.
Der Sattel kippt dauernd nach hinten
Es ist Samstag, der 3. Oktober 2015. Ein blauer, sonniger und warmer Herbsttag. Genau wie vor einem Jahr, als alles begann. Nicht weit hinter der Schwimmbrücke geht es jetzt schnurgerade nach Süden auf einem huckeligen, steinigen Weg durch den polnischen Wald. Ganz in der Nähe liegt das Dörfchen Bielawa Dolna. Eines der beiden Fahrräder zickt, der Sattel kippt dauernd nach hinten. Das Fahren ist ziemlich ungemütlich, wir wechseln uns ab mit den Rädern.
Der Schlenker durch Polen dauert eine gute halbe Stunde. Wir erreichen Pieńsk und kehren über die Neißebrücke bei Deschka zurück nach Deutschland. Auf der anderen Seite der Brücke frage ich nach dem östlichsten Punkt. Kommen wir von hier aus quer durch? Eine ältere Frau in einem Vorgarten deutet auf ein Feld rechts von uns und meint: "Das ist noch ein ganzes Stück, immer an der Neiße entlang. Und ich weiß nicht, ob das Gras geschnitten ist." Wir entscheiden uns für die sichere Variante: Wir fahren zurück nach Zentendorf.
"Hier ist der östlichste Punkt Deutschlands"
Ein Stück Landstraße, dann liegt der Ort vor uns. Aber wir biegen falsch ab, radeln einen schattigen Hohlweg hinunter und stehen vor einem gepflügten Acker. Das Mobiltelefon zeigt uns, dass es nicht weit ist zum östlichsten Punkt. Luftlinie sind es knapp 500 Meter, aber es gibt keinen Weg. Dirk schultert sein Rad und will zu Fuß über den Acker. Wir fahren dann doch, den Hohlweg wieder hinauf. Bald finden wir im Dorf ein Hinweisschild und kurz danach einen sonnigen Feldweg.
Noch ein paar hundert Meter, dann sehen wir den Stein. Er ist mannshoch und aus Granit. Er sieht aus wie ein aufgerichtetes Ei und steht unter einer Eiche. Wir werfen die Räder auf die Wiese und gehen die letzten 200 Meter zu Fuß. 750 Kilometer liegen jetzt hinter uns.
Wir sind da
Ich hole das Mikrofon heraus, schalte das Aufnahmegerät ein und beginne im Gehen irgendetwas von "Ankommen" und "Bilanz" zu erzählen - aber ich bin außer Atem und aufgewühlt. Ich begreife nicht, dass wir da sind. Noch ein paar Schritte, dann berühre ich den schattigen Felsblock und lese auf der silbernen Metallplatte die Aufschrift: "Hier ist der östlichste Punkt Deutschlands". Wir sind da.
Der MDR auch. Sebastian Götz steht unter der Eiche und freut sich, die Kamera in der Hand. Er hat nicht damit gerechnet, hier viele Menschen zu treffen.
Mit uns hat er schon gar nicht gerechnet.
Sebastian Götz dreht für den MDR eine Serie über die vier extremsten Punkte im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks.
Der Südlichste liegt an der tschechischen Grenze in Schönberg bei Bad Brambach. Der Westlichste liegt an der hessischen Grenze bei Point Alpha, und der Nördlichste in Aulosen in der Altmark, nicht weit vom Vierländereck Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Auch Sebastians Reise geht heute zuende. Es ist ein surrealer, ein schöner Zufall, ihn in genau diesem Moment zu treffen.
Dann kommt ein rotes Auto über den Feldweg auf uns zu. Ein älterer Mann steigt aus, klappt den Kofferraum auf und beginnt, eine Kaffeetafel aufzubauen. 80 Leute könnten es werden, sagt er. Der Mann heißt Martin Friedrich und macht das schon lange. Seit mehr als 20 Jahren treffen sie sich hier, viele sind aus dem Dorf, ein paar kommen aus Görlitz und Rothenburg. Sie treffen sich jedes Jahr, immer am dritten Oktober. Meistens gibt es Kaffee und Kuchen, aber Martin Friedrich grillt auch gern. Er lädt uns ein, nachher mitzufeiern, aber dann werden wir schon fort sein. Also holt er uns ein Bier. Es ist kurz nach elf, als wir anstoßen.
Politischer Tiefflieger
Martin Friedrich zeigt uns ein kreisrundes Mini-Häuschen, eine Art Zylinder ein paar Meter weiter rechts, Durchmesser zwei bis drei Meter. Ja, sagt er, hab ich auch gebaut. Drinnen klingen die Stimmen hohl, und strenggenommen ist die Konstruktion ein Kinderkarrussell: Die Bank um den runden Tisch mit der Plexiglasplatte ist drehbar. Einfach ein Gag? "Wenn einer auf's Klo muss, muss nicht jeder aufstehen", sagt er. Dann dreht er an dem Tisch, und ich fahre eine Runde.
Ich frage Martin Friedrich, was ihm der 3. Oktober bedeutet. "Es ist heute auch nicht alles gut, aber ich will nicht zurück", sagt er. Die DDR hat er nicht besonders gemocht,
nennt sich selbst einen politischen Tiefflieger
. Er war Schlosser und Schweißer, und als er 1964 von der Armee heimkam, beantragte er die Ausreise. Vor seinen Augen haben sie den Antrag zerrissen. Danach hat er einen Tag lang gestreikt. "Mich haben die Leute gestört", sagt er, "die auf der Arbeit bis nachmittags über den Westen herziehen und dann um 17 Uhr in den Intershop gehen."
Jetzt kommen drei Radler zum östlichsten Punkt - ein Mann und zwei Frauen. Der Mann ist Gemeinderat Norbert Neudeck mit seiner Frau Hannelore und deren Freundin Marion. Wir fragen auch sie: Wie stehen sie zur Wiedervereinigung, wenn sie schonmal hier sind, am 3.10.? "In meinem Bekanntenkreis gibt es ganz Wenige, denen das nicht gefällt", sagt Norbert Neudeck. "Es war ein Glücksfall für uns alle. Wir waren damals Mitte 30, und es war der richtige Weg."
Transparente gegen "Rohstoffpiraten"
Dann wird es doch noch ernst. Denn es geht um das Kupfer. Diese Geschichte bereitet vielen hier in der Gegend Sorgen. Wir hatten auf der Wanderung von Görlitz hierher schon gestutzt, als wir Transparente mit dem Wort "Rohstoffpiraten" sahen. Im kleinen Lädchen am Straßenrand genügte eine Frage. Später sehen wir noch mehr Transparente und sogar eine Mahnwache mit weiß gekleideten Vogelscheuchen.
Es geht darum, ob und wie das Kupfer in der Gegend abgebaut wird. Der polnische Bergbau-Konzern "KGHM Polska Miedź" hat vor ein paar Wochen eine Probebohrung gemacht, einen Steinwurf von hier - zwischen Deschka und Zentendorf. Die Firma vermutet nach eigener Darstellung 2,3 Millionen Tonnen Kupfer in der Region. Und die Angst der Bevölkerung gilt der Umwelt. Wie berechtigt sie ist, kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen, das Internet ist voll von Artikeln und Links zu dem Thema.
Norbert Neudeck, der Gemeinderat, bringt es auf den Punkt:
"Wir sind eh schon bergbaugebeutelt als Region"
, sagt er. "Aber die Landschaft hier, die ist fantastisch, und darum haben alle Angst, dass das wegbrechen könnte, wenn die mit dem Kupfer anfangen". So wie er es ausspricht, hat das Wort "wegbrechen" mehr als eine Bedeutung.
Der Türmer von Zittau erwartet uns
Wir verabschieden uns und suchen unsere Räder auf der Wiese. Das war der östlichste Punkt Deutschlands. Wir sind angekommen am Ziel unserer Reise. 750 Kilometer zu Fuß liegen hinter uns. Es ist Tag der Deutschen Einheit, und die Pflicht ist erfüllt. Jetzt kommt die Kür. Denn wir setzen uns in den Bus und fahren runter nach Zittau. Das liegt zwar nicht mehr auf unserer Route, aber wir haben eine Einladung bekommen. Der Türmer der Johanniskirche schrieb uns und fragte, ob wir nicht am 3. Oktober abends auf 60 Meter Höhe in der alten Türmerwohnung übernachten wollen. Wir wollen.