Deutschland ist eine Orgel. Es ist 19 Uhr abends in Korbach, und der Stadtkantor spielt eine Toccata des Komponisten Andreas Wilscher. Die Kilianskirche ist Klang, das Stück ist ein kraftvolles, frohes Werk - und ich stehe nicht im Kirchenraum, sondern mitten in der Orgel. Eine kleine Tür an der Seite, dahinter drei Stockwerke aus hellem Holz, verbunden durch Leitern. Hier im ersten Stock der Orgel ist es wahnsinnig laut. Ungefiltert, der reine Sound. Hunderte glitzernde Pfeifen aus Metall ragen empor, eine Miniatur-Skyline. Der Kantor beschreibt seine Orgelpfeifen als Familie, "mit Großeltern, Eltern und Kindern". Der Vergleich passt.
Die Orgel ist noch ganz jung und eine "Bürgerorgel". Auch dieses Wort stammt vom Kantor. Der Mann heißt Eberhard Jung, ist 51 Jahre alt, und in seinem Blick liegt Wärme, wenn er von dem Instrument spricht. 840.000 Euro hat die Orgel gekostet. Öffentliche Gelder sind keine geflossen, ein Förderverein hat das gestemmt - mit Benefizkonzerten, Spenden und einem Zuschuss der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck. Das kleine Wunder wurde Wahrheit: 2011 die Einweihung, seither viele Konzerte, das Haus voll, und Ende April 2015 kommt sogar ein Weltstar - der US-Organist Cameron Carpenter.
Korbach: wieder so eine Stadt in Deutschland, über die wir nichts wussten. 24.000 Einwohner, die einzige Hansestadt in Hessen. Der größte Arbeitgeber ist die Firma "Continental" mit 3.500 Beschäftigten, die Arbeitslosigkeit ist gering. Wir wollen wissen, was die Menschen in Korbach antreibt. Darum fragen wir den Chefredakteur der Lokalzeitung, den Bürgermeister, den Museumsdirektor - und den Stadtkantor.
Denn Eberhard Jung ist einer der kreativen Motoren von Korbach. Er ist schwul und lebt in einer Dreierbeziehung. Er und seine beiden Partner Thomas Schwill und Georg Lungwitz habe eine alte Schule im Stadtteil Lelbach gekauft und renoviert. Dort wohnen sie, machen ein Projekt nach dem anderen und sind bestens vernetzt, nicht zuletzt weil Georg der "Clubmaster" im Lions-Club "Korbach - Waldecker Land" ist.
Was Stadtkantor Eberhard Jung gerade bewegt, ist Brundibár. Das ist eine Kinderoper, die der Prager Hans Krása komponiert und im Konzentrationslager Theresienstadt gespielt hat. Später wurden Krása und die meisten Kinder in Auschwitz ermordet. In Korbach haben gerade 60 Kinder die Oper aufgeführt. Die Gesamtleitung hatte der Stadtkantor selbst, die Regie führte sein Lebensgefährte Thomas. Genauso geht das seit Jahren: Eberhard, Thomas und Georg organisieren bei sich zuhause und in der Stadt Veranstaltungen, sie gewinnen Sponsoren, sie treiben Korbach an.
Freud und Leid eines "Mittelzentrums"
Korbach ist eine Beinahe-Metropole, ein Schein-Riese: Die Stadt muss größer wirken, als sie ist. Kommunalpolitisch formuliert ist Korbach ein "Mittelzentrum". Aber es gibt weit und breit keine "Oberzentren": Kassel, Marburg und das nordrhein-westfälische Paderborn sind 60 Kilometer entfernt. Also übernimmt Korbach deren Aufgaben zum Teil. Zum Beispiel wartet die Feuerwehr die Atemschutzgeräte vieler Orte im Landkreis. Ein großer Vorteil der geographischen Lage: Die Menschen kaufen mangels Alternative in Korbach ein, so bleibt die Kaufkraft am Ort.
Die Stadtkasse ist trotzdem leer. "Wir haben ein Einnahmeproblem", sagt der Bürgermeister. Klaus Friedrich ist Jahrgang 1960. Er ist parteilos, seit 2001 im Amt. Und er lacht und erzählt gern. Das Einnahmeproblem seiner Stadt liegt auch daran, dass Continental seit Jahren keine Gewerbesteuer mehr zahlt.
Hintergrund war 2007 die milliardenschwere Übernahme von Siemens VDO. In der Folge kündigte Conti Einschnitte bei der Gewerbesteuer an - bei einem Betrieb dieser Größe reißt das ein Loch in die Stadtkasse. Immerhin: Der Standort Korbach gilt als sicher. Zuletzt hat Continental die Logistik sogar noch ausgebaut, schon bald soll ein neues Technologiezentrum eingeweiht werden.
"Uns fehlen die Leute"
Den Bürgermeister bewegen viele Themen, aber besonders die Flüchtlingsfrage und die Zuwanderung. Er will qualifizierte Einwanderer, und das auch im Handwerk, vom Koch bis zum Mechatroniker: "Da fehlen uns die Leute", sagt er unumwunden. Und bei den Flüchtlingen ist er ebenso klar: "Je schneller wir den Menschen sagen, dass sie anerkannt werden oder nicht, desto eher kann man mit der Integration beginnen."
Er wird nachdenklich. "Wir sind in den vergangenen 25 Jahren in ein dauerhaftes Gefühl von Frieden hineingeraten." Heute, sagt er, sei der Krieg bei uns angekommen - sichtbar durch die Menschen, die Zuflucht suchen, etwa aus Syrien. "Und daraus erwächst für uns umso mehr die Verpflichtung, sie willkommen zu heißen."
Hier sind die Menschen keine Hessen, sondern Waldecker
Der nächste Termin, der nächste Kopf: Wir treffen den Chefredakteur der Lokalzeitung. Auch Jörg Kleine ist jemand, der sich mit Korbach richtig gut auskennt. Sein Büro liegt so wie die Kilianskirche und das Rathaus im Herzen des alten Stadtzentrums, und seine Zeitung ist fast 130 Jahre alt: Sie heißt "Waldeckische Landeszeitung", erscheint in einer Auflage von um die 16.000 Exemplaren und hat schon bald das Monopol in der Gegend. Die langjährige Konkurrentin - die Lokalausgabe der "Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen" - wird eingestellt. Der Hintergrund: Beide Blätter gehören seit kurzem zur Ippen-Gruppe. Aus Sicht der Gewerkschaft Verdi ist Nordhessen damit um eine Stimme ärmer.
Chefredakteur Jörg Kleine bewegt das Thema Heimat. Da findet er sofort klare Worte, und sie klingen nicht chauvinistisch. Heimat, das bedeutet hier: Im Herzen fühlst du dich nicht als Hesse. "Für die Menschen ist es ein Identitätsmerkmal, Waldecker zu sein und auf eine eigene Geschichte zurückzublicken", sagt Jörg Kleine. Das Fürstentum Waldeck war beharrlich und bestand immerhin bis 1918, danach gab es noch bis 1928 den Freistaat.
"Heimat ist etwas Positives"
Jörg Kleine klickt auf seinem Rechner. Ein Video öffnet sich, wir hören bombastische Musik mit Streichern und Trommeln, im Zeitraffer ziehen Wolken über das Waldecker Land: ein Kurzfilm über die Gegend, eine Mini-Doku, nur Bild und Musik. Und viel Emotion. Was ist denn Heimat? "Heimat ist etwas Positives", sagt Jörg Kleine. "Hier sind Deine Wurzeln, hier bist Du verortet, hier fühlst Du Dich wohl."
Und das will auch die "Waldeckische Landeszeitung" vermitteln. Das sieht Jörg Kleine als eine seiner Aufgaben an, als Herausforderung eines Chefredakteurs. Für ihn ist das, wofür er schreibt, eine "Heimatzeitung". Sei es die Pannenserie im Hallenbad oder die Zukunft der gealterten Fußgängerzone: Die "Waldeckische Landeszeitung" versteht sich als Chronistin und kritische Lokalstimme. Sie sieht sich auch als gesellschaftliche Akteurin und gestaltet das Korbacher Leben mit - zum Beispiel als Partnerin bei dem Plan, wieder Kinofilme in der Stadt zu zeigen (denn Korbach hat seit zwei Jahren kein Kino mehr).
Der Korbacher Dackel - eine kleine Sensation
Wieder nur ein paar Meter, und wir sind im Stadtmuseum. Der Direktor ist noch so ein Mensch, der Korbach in Bewegung hält, der das Gedächtnis der Hansestadt kennt und pflegt. Wilhelm Völcker-Janssen stammt aus Wuppertal, hat in Köln und Freiburg studiert und kam vor zwei Jahrzehnten nach Korbach.
Damals erlebte er gleich zum Auftakt, was es heißt, wenn im alten Stadtkern ein neues Museum gebaut wird. Viel Streit gab es um das Projekt, zu dem er hinzukam. Heute ist das Gebäude längst ein Hingucker. Ein Schüler von Frank Gehry hat es entworfen. Er hat ein Ensemble aus historischen Stadthäusern und neuen Beton-Kabinetten erfunden, zusammengehalten durch ein Glasdach. Für den Museumsdirektor spiegelt sich in der Architektur die Geschichte einer Stadt.
Sein Liebling aber ist nicht der Bau, sondern der Dackel. Der "Korbacher Dackel" ist eine archäologische Sensation. Er ist 60 Zentimeter groß und heißt streng genommen "Procynosuchus", nur klingt das Wort "Dackel" halt konkreter. Das kleine Vorzeit-Tier lebte vor gut 250 Millionen Jahren, die Fossilien wurden in der legendären Korbacher Spalte entdeckt, 20 Meter tief, in einem Steinbruch am Stadtrand. Der "Procynosuchus" ist ein Brückentier, ein "säugetierähnliches Reptil". In den Worten von Wilhelm Völcker-Janssen, eines studierten Archäologen, klingt das so: "Der Procynosuchus hatte eine differenzierte Bezahnung, also Schneide- und Kauzähne. Andere Reptilien haben nur eine Sorte Zähne."
Eine Nacht im Museum - zu den Füßen von Raptoren
Wir reden lange mit dem Museumsdirektor und erfahren, dass hier früher nach Gold gegraben wurde und bis heute im Eisenberg in Goldhausen das größte Vorkommen Deutschlands liegt, nur ist leider auf wirtschaftliche Weise nicht dranzukommen. Und sann kommt das Beste: Der Direktor erlaubt uns, ganz allein in seinem Museum zu übernachten.
Dirk und mir ist sofort klar, wo wir die Isomatten und Schlafsäcke hinlegen: auf die Empore im ersten Stock. Dort ist der Boden aus Holz, und das Klo und sogar eine Dusche liegen nur ein paar Meter weiter. Vor uns aber, da stehen zwei Dinosaurier - Raptoren genauer gesagt, mannshoch, mit spitzen Zähnen und wachen Augen. Zu ihren Füßen schlafen wir ein, während unser Blick durch das gläserne Dach fällt - direkt auf die Kilianskirche mit ihrer Bürgerorgel, und darüber nur noch der Sternenhimmel, der hier, im alten Fürstentum Waldeck, natürlich viel schöner leuchtet als in Hessen.