Den Bewohnern der Küstenregionen im Golf von Bengalen bot sich ein Bild des Grauens, als sie nach dem Durchzug des Zyklons Amphan in ihre Dörfer zurückkehrten. Die meisten Opfer und die größte Zerstörung gab es in den indischen Bundesstaaten Odisha und Westbengalen, wo die Millionenstadt Kolkata liegt, die einst Kalkutta hieß.
Doch auch in Bangladesch, das von Amphan nur gestreift wurde, haben die heftigen Stürme und starken Regenfälle Erdrutsche ausgelöst und Überschwemmungen verursacht.
In Sathkura, einer kleinen Ortschaft im Flussdelta des Ganges, versucht die junge Mutter Salma Begum, in den Trümmern ihres Hauses noch Brauchbares für den Neuanfang zu finden: "Vor dem Zyklon sind wir in einen der Schutzräume geflüchtet. Jetzt versuchen wir hier, unser Leben wiederaufzubauen. Unser Haus ist völlig zerstört worden."
Millionen von Menschen waren vorsorglich in Sicherheit gebracht worden, als der Wirbelsturm über den Golf von Bengalen auf die Küste zukam. Angesichts der Corona-Pandemie keine leichte Aufgabe, denn für die Evakuierung wurden viel mehr Fahrzeuge und Notunterkünfte benötigt als sonst bei Naturkatastrophen dieser Art.
Auch in den Rohingya-Flüchtlingslagern in Cox's Bazar und Kutapalong waren die Auswirkungen des Zyklons spürbar. Überschwemmungen, Erdrutsche und zerstörte Unterkünfte haben die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen in den Lagern im Süden von Bangladesch noch weiter verschlechtert.
Zwar hat der Wirbelsturm Amphan in den Rohingya-Flüchtlingslagern offenbar keine Todesfälle verursacht, doch wurden inzwischen die ersten Corona-Fälle bei den Rohingya registriert. Seitdem wächst die Sorge vor einem sprunghaften Anstieg der Infektionszahlen. Die unvermeidbare Nähe in den engen Behausungen und die unzureichende hygienische und medizinische Versorgung könnten eine Ausbreitung von COVID-19 beschleunigen, befürchtet Shamin Jahan, der Landesdirektor der Hilfsorganisation Save the Children:
"Cox's Bazar ist ein sehr dicht besiedeltes Lager. 40 bis 70.000 Menschen pro Quadratkilometer leben dort auf engstem Raum. Und da das Coronavirus extrem ansteckend ist, kann es sich schnell ausbreiten. Die Menschen leben in den provisorischen Hütten unter sehr schwierigen Verhältnissen. Es ist eigentlich unmöglich, soziale Distanz einzuhalten, obwohl die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen alles tun, um die Bewohner der Lager über die Corona-Vorsichtsmaßnahmen aufzuklären."
Rund eine Million Rohingya leben seit knapp drei Jahren in den Lagern in Cox's Bazar und Kutapalong im Süden von Bangladesch, nachdem sie aus dem benachbarten Myanmar vertrieben wurden, beziehungsweise vor der Gewalt der Soldaten von dort geflohen waren.
Flüchtlingshelfer verteilen verteilen Seife
Seit Wochen warnen Hilfsorganisationen vor erhöhten Infektionsrisiken für die Rohingya. Anfang April hatten die Behörden den gesamten Bezirk von der Außenwelt abgesperrt. Dies habe möglicherweise dazu beigetragen, dass bislang noch nicht viele Corona-Fälle in den Flüchtlingslagern registriert wurden, so Shamin Jahan, von Save the Children:
"Cox's Bazar ist seit Monaten abgeriegelt und die Behörden haben das sehr strikt überwacht. Nur Mitarbeiter von Hilfsorganisationen durften rein und raus, um den Menschen Essen und andere Hilfsgüter zu bringen. Deshalb glaube ich nicht, dass es viel mehr Fälle gibt, obwohl man das vermuten kann."
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und andere Hilfsorganisationen verteilen Seife und Desinfektionsmittel. Tausende Freiwillige, darunter auch Flüchtlinge, wurden zu medizinischen Hilfskräften ausgebildet. Über Radiospots, Videos, Poster und Flugblätter wird den Flüchtlingen seit Wochen erklärt, wie sich das Virus ausbreitet und wie sie sich schützen können. Golforai Begum, eine junge Rohingya-Frau, die auf die Ausgabe von Hilfsgütern im Lager Kutapalong wartete.
"Die Hilfsorganisationen haben uns erklärt, dass Husten und Halsschmerzen Anzeichen für das Coronavirus sein können. Sie sagten, wir sollen zu niemandem ins Zelt gehen und uns von allen Leuten fernhalten, mindestens zwei Meter. Wir sollen Menschenansammlungen meiden und uns immer die Hände waschen."
Deutschland hat angesichts der ersten Corona-Fälle in den Rohingya-Flüchtlingslagern in Bangladesch angekündigt, die finanzielle Unterstützung aufzustocken. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), der die Lager erst im Februar besucht hatte, will die zugesagten 15 Millionen Euro für dieses Jahr auf 25 Millionen erhöhen. Zusammen mit dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF solle vor allem die Lage der mehr als 400.000 Kinder in den Flüchtlingslagern verbessert werden, sagte der Minister in Berlin.
Virus breitet sich auch in Slums aus
Doch die Rohingya-Flüchtlingslager sind nicht die einzigen Elendsviertel in Bangladesch. Auch in den Slums der Hauptstadt Dhaka breitet sich das Coronavirus aus. Auch dort leben viel zu viele Menschen unter erbärmlichen Bedingungen auf engstem Raum. Abstand- und Hygieneempfehlungen einzuhalten sei eigentlich unmöglich, so Mohammad Shahjahan, der Imam der Moschee in dem Elendsviertel.
"Die Menschen leben hier auf sehr engem Raum. Fünf bis sieben Leute in einem kleinen Zimmer. As sind sehr arme Leute, die können sich nicht um das Coronavirus kümmern, wenn sie nicht mal was zu essen haben. Noch gibt es keine Corona-Fälle hier in dem Viertel, aber das kann sehr schnell passieren – diese Gefahr ist groß."
In den Slums leben vor allem Tagelöhner mit ihren Familien. Männer und Frauen, die nur dann Geld für Essen haben, wenn sie Arbeit finden. Seit dem Stillstand des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft, sind sie auf Hilfe angewiesen. Sie wisse nicht mehr weiter, klagte Sonya Begum.
"Wir leben hier in diesem Slum und trotz dieses Coronavirus ist noch niemand gekommen, um uns zu untersuchen. Wir bekommen keine Hilfe, obwohl wir hier unter solchen Bedingungen leben und wirklich in Gefahr sind, uns anzustecken."
An den Essensausgabestellen der Hilfsorganisationen drängen sich die Bedürftigen. Mokhlesur Rahman, ein Bettler, hat sich gerade seine Ration abgeholt. "Niemand kümmert sich um uns. Niemand hilft den Armen. Manche geben uns was zu essen, ein bisschen Reis und Linsen. Das ist alles."
Die Touristen sind weg
Mohammad Jashim ist Rikscha-Fahrer und kutschiert normalerweise Kunden durch die Straßen der Millionenstadt. Mit den paar Taka, die er dabei verdient, ernährt er seine Familie.
"Ich habe vier Töchter und wir haben nichts mehr zu essen. Wir sind hungrig, deshalb bin ich heute mit meiner Rikscha losgefahren, um ein bisschen was zu verdienen, damit ich meiner Familie was zu essen kaufen kann. Doch die Polizei hat meine Rikscha konfisziert. Was soll ich denn jetzt machen?"
Auch für die Pferdekutschen-Fahrer von Dhaka gilt der Lockdown. Die Touristen, die Ali Ashgar normalerweise durch die Altstadt von Dhaka fährt, sind weg. Ohne Einnahmen fehle nicht nur Geld für den Lebensunterhalt seiner Familie, klagt er. Auch die Pferde müssten versorgt werden.
"Wegen des Coronavirus dürfen wir mit unseren Kutschen nicht mehr raus. Normalerweise fahren wir Touristen rum, manchmal werden wir für Hochzeiten gebucht, für Werbeaufnahmen oder Filmproduktionen. Aber jetzt steht alles still. Unsere Tiere sterben fast vor Hunger, genau wie wir. Wir können nur noch zu Allah beten, dass wir bald wieder fahren dürfen."
Die Regierung müsse sich vor allem um die Slumbewohner kümmern, sagte Zafrullah Chowdhury, vom Ganoshastaya Kendro Hospital, einem Krankenhaus für Arme in Dhaka.
"Warum gibt es wohl bei der Polizei so viele Corona-Fälle? Weil die durch die Slums gehen und es dort so viele Infizierte gibt, die keine Symptome haben. Die Regierung sollte in den Slums mehr Corona-Tests durchführen und die positiven Fälle isolieren. Andernfalls wird es sehr schlimm werden."
Bei der Polizei in Dhaka gab es Medienberichten zufolge tatsächlich auffallend viele Infektionen. Anfang Mai seien rund 1.200 Polizisten im Polizeikrankenhaus unter Behandlung gewesen, hieß es. Ebenso viele zuhause unter Quarantäne und weitere 1.000 in einer Isolierstation. Sogar Todesfälle habe es gegeben, klagte Masudur Rahman, der stellvertretende Polizeichef von Dhaka:
"Als wir erfahren haben, dass sich das Virus bei der Polizei ausbreitet, haben wir sofort einen Plan erstellt, wie wir unsere Leute besser schützen können. 6 Polizisten sind bislang gestorben. Jetzt schicken wir alle Beamten ins Polizei-Krankenhaus und wir schulen sie, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, damit sich das Virus nicht weiter ausbreitet."
Bestellungen von 900 Millionen Kleidungsstücken storniert
Der erste Corona-Fall in Bangladesch ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO am 8. März registriert worden. Inzwischen seien alle größeren Bezirke mit mehr als 170.000 Einwohnern betroffen. Bangladesch gilt als eines der am dichtesten besiedelten Länder in Südasien und ist deshalb durch die Corona-Pandemie besonders stark gefährdet.
Der weltweite wirtschaftliche Stillstand brachte auch die Textilindustrie in eine Krise. Anfang April stornierten internationale Modeketten ihre Aufträge bei den Zulieferern. Wie die Tageszeitung Daily Star berichtete, sind die Textilexporte von Bangladesch allein in der ersten Aprilwoche um mehr als 77 Prozent eingebrochen.
Bis heute haben viele Textilarbeiterinnen und -arbeiter ihr Geld noch nicht bekommen. Trotz Corona-Ausgangssperre gingen sie Mitte Mai auf die Straße, um zu protestieren.
"Unseren Lohn für März haben wir in drei Raten bekommen, für April noch gar nichts. Und jetzt haben sie unsere Fabriken auf unbestimmte Zeit geschlossen. Deswegen protestieren wir. Wenn sie die Fabrik schließen, dann müssen sie doch wenigsten die ausstehenden Löhne zahlen."
Bangladesch ist wie kaum ein anderes Land von der Textilindustrie abhängig. In den rund 4.000 Textilfabriken, Nähereien und Strickereien arbeiten etwa vier Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen. So wie Khushi Akhtar und Ambia Begum.
Khushi Akhtar: "Niemand weiß, wann unsere Fabrik wieder geöffnet wird. Wir haben bis jetzt keinen Lohn bekommen und wir sind auch nicht sicher, ob wir überhaupt was bekommen. Das ist wirklich ein Problem für uns."
Ambia Begum: "Wir müssen doch Miete zahlen und Essen für unsere Familien kaufen. Wie sollen wir denn überleben? Die Regierung muss uns helfen.
Bereits Mitte April klagte die Präsidentin des Verbandes der Textilhersteller und Exporteure von Bangladesch BGMEA, Rubana Huq, dass Bestellungen von mehr als 900 Millionen Kleidungsstücken storniert worden seien. Sie wandte sich in einer Video-Botschaft, die im Internet verbreitet wurde, an die Auftraggeber, die Produktion nicht vollkommen einzustellen.
"Ich flehe Sie an, alle Ihre Produkte, die bereits fertig sind oder noch in Arbeit, zu den vereinbarten Preisen abzunehmen. Und für die Textilien, die schon in Auftrag gegeben wurden, aber noch nicht produziert werden, brauchen wir dringend wenigstens den Teil, der als Lohn für die Beschäftigten vorgesehen ist. Wenn wir die Produktion in den nächsten drei Monaten ganz einstellen, stehen über vier Millionen Textilarbeiterinnen buchstäblich auf der Straße und dieses soziale Chaos können wir uns einfach nicht leisten."
"Die Arbeiterinnen haben Existenzprobleme"
Bangladesch ist nach China die weltweite Nummer Zwei unter den Bekleidungsproduzenten. Allein im letzten Geschäftsjahr, das im Juni 2019 zu Ende ging, hatten die Textilexporte einen Umfang von mehr als 34 Milliarden Dollar, knapp 85 Prozent der Gesamtexporte von Bangladesch.
Durch die Corona-Pandemie stehen in den meisten Textilfabriken von Bangladesch die Nähmaschinen still, wie auf Filmmaterial der Nachrichtenagentur Reuters zu sehen war. Der wirtschaftliche Schaden sei kaum absehbar, klagte Mohammad Hatem, der Vizepräsident des Verbandes der Strickwaren-Produzenten von Bangladesch.
"Die Firmen leiden darunter und die Arbeiterinnen haben Existenzprobleme. Sie haben Angst, wann sie wohl das nächste Mal Lohn bekommen. Wir versuchen, zusammen mit der Regierung eine Lösung zu finden, damit wir alle wieder auf die Beine kommen."
Obwohl sich das Coronavirus auch in Bangladesch weiter ausbreitet, haben einige Textilfabriken die Arbeit wiederaufgenommen. Rund 500 Produzenten in Dhaka und Chittagong haben von der Regierung eine Sondergenehmigung bekommen. Arbeiterinnen mit Atemschutzmasken nähten Kleidungsstücke für Modefirmen wie Zara, H&M oder GAP, wie auf Filmmaterial der Nachrichtenagentur Reuters zu sehen war. Imtaz Ahmed Matin, der Generaldirektor der All Muslim Garment Factory in der Hauptstadt von Bangladesch.
"Nach einem wochenlangen Lockdown haben wir heute wieder aufgemacht. Vielleicht können wir so unsere Verluste aus den letzten Wochen wieder reinholen. Unsere Geschäftspartner und Importeure unterstützen uns. Wir hoffen, dass auch bald wieder Lieferungen rausgehen können."
Die Regierung in Bangladesch hatte die Textilfabriken und Zulieferunternehmen angewiesen, die Löhne der Arbeiterinnen trotz der Ausgangssperre weiterzubezahlen. Die Fabrikbesitzer hätten das nicht leisten können, sagte die Präsidentin des Verbandes der Textilhersteller und Exporteure von Bangladesch, Rubana Huq. Drei Milliarden US-Dollar habe die Branche in den letzten Wochen verloren, weil Aufträge aus dem Westen storniert oder zeitweise aufgehoben wurden. Es habe keine andere Wahl gegeben, als die Fabriken wieder zu öffnen.
Mohammad Shorif, der Direktor einer Textilfabrik in Dhaka hat die Produktion rechtzeitig umgestellt. Statt Damenbekleidung lässt er Schutzbekleidung und Masken für medizinisches Personal anfertigen. "Normalerweise exportieren wir Kleider, aber jetzt stellen wir wegen der großen Nachfrage PPE-Schutzkleidung her. Wir beliefern Ärzte und Krankenschwestern, Polizisten, Soldaten und Journalisten. Auf diese Weise konnten wir den Betrieb weiterlaufen lassen."
Allgegenwärtige Sorge vor dem Virus
Viele der Textilarbeiterinnen und -arbeiter sind zwar froh, dass die Produktion wieder losgeht. Doch die Sorge vor dem Coronavirus ist allgegenwärtig. Masum Billah, der nach seiner Schicht in der Textilfabrik auf dem Weg nach Hause war.
"Alle Regierungseinrichtungen sind noch geschlossen wegen des Coronavirus. Und wir beginnen wieder mit der Arbeit, warum? Wir sitzen zu Hunderten in der Halle und bekommen keine Schutzkleidung. Fühlen die sich überhaupt nicht verantwortlich für uns? Zählt unser Leben denn gar nichts? Sind wir keine Menschen?"
Auch in die Gotteshäuser der Volksrepublik Bangladesch, deren Bevölkerungsmehrheit sich zum Islam bekennt, ist wieder Leben eingekehrt. Noch vor dem Ende des Ramadans wurden die Moscheen wieder geöffnet. Mit Abstand und Mundschutz nahmen die Gläubigen am letzten Freitagsgebet teil. Mohammad Tofazzal Hossain, der Imam der Star Moschee in Dhaka: "Die Regierung hatte die Moscheen anfangs geschlossen wegen des Coronavirus. Jetzt können wir wieder endlich wieder zum Gebet hierherkommen. Wir werden darauf achten, dass beim Gebet ein Sicherheitsabstand eingehalten wird."
Der Kampf gegen Corona in Bangladesch wird jetzt überlagert von den Aufräumarbeiten nach dem Zyklon Amphan. Wegen der unterbrochenen Telefon- und Internetverbindungen sind noch längst nicht alle Zahlen über Tote, Verletzte und Sachschäden bekannt. Vor allem aus den entlegenen Regionen gehen die Meldungen erst nach und nach ein.
Nach Einschätzungen von Hilfsorganisationen hat der Zyklon zwar massive Sachschäden verursacht, jedoch verhältnismäßig wenige Todesopfer gefordert. Die Katastrophenvorsorge in Bangladesch und im benachbarten Indien sei in den vergangenen Jahren deutlich verbessert worden, hieß es. Erschreckend sei aber, dass die Stärke und die Häufigkeit tropischer Wirbelstürme aufgrund des Klimawandels und der Erwärmung der Meere von Jahr zu Jahr zunehme.